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Schlaglichter auf die Buchmesse

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Dafür dass auch in diesem Jahr wieder ein Rekord gebrochen wurde, sorgte die Frankfurter Buchmesse gleich zu Beginn. Der neunzehnjährige Patrick Sinner schaffte auf der Buchmesse den Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde mit dem längsten Bücher-Domino der Welt um. Der mehrfache Domino-Rekordhalter hatte dazu 10.200 Bücher aufgebaut. Für die FAZ war das ein „Gurkentermin“, zumal angekündigt wurde, dass es in diesem Jahr mal wieder mehr um Inhalte gehen sollte – und etwas weniger um vermeintliche Sensationen oder neue Technologien und die damit zusammenhängenden Sorgen und Nöte der Buchbranche. Nicht wenige scheinen sich zu freuen, dass das Wachstum im Bereich E-Books abflacht und in den ersten beiden Quartalen 2015 im Vergleich zum Vorjahr laut Börsenverein„nur“ 12,8 % betrug. Der Umsatzanteil des E-Books ist in diesem Zeitraum von 4,9 % auf 5,6 % gestiegen.

Foto: Holger Moos
Die Namen der Konferenzräume sind eine Klasse für sich, Brillanz war die Devise

Ich folgte dem Strom der Lesungen und Buchpräsentationen. Wie immer gab es Autoren/innen, die einem wie beim Hase-und-Igel-Rennen immer einen Schritt voraus und scheinbar allgegenwärtig waren, so etwa Friedrich Ani („Der namenlose Tag“), Jenny Erpenbeck („Gehen, ging, gegangen“), Ilija Trojanow („Macht und Widerstand“) oder Feridun Zaimoglu („Siebentürmeviertel“). Der Gewinner des diesjährigen Deutschen Buchpreises, Frank Witzel, hat mit „Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“ mit Sicherheit einen der längsten, wenn nicht den längsten Titel, den irgendein Buchpreisgewinner weltweit jemals hatte. Ob das für das Guiness Buch reicht, weiß ich nicht. Den Preis erhielt sein „maßloses Romankonstrukt“, weil es „in seiner Mischung aus Wahn und Witz, formalem Wagemut und zeitgeschichtlicher Panoramatik einzigartig in der deutschsprachigen Literatur“ sei, so die Jury.

Foto: Holger MoosMit Selbstdarstellung keine Probleme hat Charlotte Roche. Sie beweist mit „Mädchen für alles“, der Geschichte einer Mutter und Ehefrau, die eine Affäre mit ihrer Babysitterin beginnt, mal wieder ihre Kernkompetenz im Bereich Sexszenen und bietet Kollegen mit entsprechenden Defiziten tatkräftige Unterstützung an: „Liebe Autoren, wenn ihr keine Sexszenen schreiben könnt, kommt zu mir“. Die SZ sinnierte sogleich in einer Streiflicht-Kolumne, wie gut es wäre, wenn Roche auch alle bereits geschriebenen Sexszenen der Literaturgeschichte umschreiben würde. Auch Helge Schneider kommt beim Publikum immer gut an. Man hört ihm einfach gern zu. Er hat einen Geschichten-Band mit dem Titel „Orang Utan Klaus“ geschrieben. Außerdem wurde er kürzlich 60. In diesem Alter wird man häufiger auf die Zufriedenheit mit dem bisherigen Leben angesprochen, so auch Helge Schneider in einem hr-Interview. Er kontert stereotype Fragen meistens mit hypernormalen Antworten und einer Prise Absurdität, so auch dieses Mal: „Ich finde mein Leben gut. Ich war zwar noch nie in Amerika, aber vielleicht komme ich da mal hin - in Thrombosestrümpfen“. In Rente will er noch nicht gehen, die Leute bräuchten ihn ja, er sei für sie eine schöne Zerstreuung. Auch mit Jochen Schmidts Erzählungsband „Der Wächter von Pankow“ ist man bestens unterhalten. Die Frankfurter Rundschau will es nicht ausschließen, dass Schmidt es mit seinen „Pointen und Preziosen“ eines Tages sogar auf eine Briefmarke schaffen wird.

Es gab natürlich auch Debüts, wie etwa „Rucksackkometen“ von Stefan Ferdinand Etgeton. Inspiriert von einem Klassiker der Beat-Literatur, von Jack Kerouacs „Unterwegs“, schickt Etgeton zwei junge Männer auf eine Odyssee durch Ost- und Südosteuropa.Die in Sankt Petersburg geborene Kat Kaufmann hat mit „Superposition“ den aspekte-Literaturpreis gewonnen. In ihrem Roman erzählt sie die Geschichte der 26-jährigen Jazzpianistin Izy Lewin, die durch die Tage und die Nächte taumelt. Für die Jury des aspekte-Literaturpreises stellt Kaufmann in ihrem Buch die großen Fragen unserer Zeit neu, sie habe ein „beeindruckendes Debüt geschrieben über die Möglichkeiten, viele Leben zu leben, viele Identitäten zu bewahren und das alles nicht verschämt im Hintergrund, sondern stolz und bewusst als Migrationsvordergrund“. Das Buchmesse-Blog der FAZ hat Kaufmann, die gerne mal einen Klassiker schreiben würde, und ihre Messetage porträtiert.

Am Freitag Abend gab es im Frankfurter Literaturhaus die mittlerweile gut etablierte Hotlist-Party der unabhängigen Verlage. In seiner Eröffnungsrede sagte Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses, ermutigende Worte zu den Aussichten der Buchbranche: „Die Zukunft der Bücher hat nichts mit der Zukunft zu tun. Die Zukunft der Bücher hat mit den Büchern zu tun“. Dann wurden alle zehn nominierten Bücher der Hotlist 2015 kurz vorgestellt. Moderiert wurde die Veranstaltung von der schnoddrigen Journalistin Claudia Cosmo und Preise gab es natürlich auch, der Melusine-Huss-Preis ging an den Verbrecher Verlag für Anke Stellings„Bodentiefe Fenster“ und der Hauptpreis der Hotlist an den Kookbooks Verlag für Monika Rincks Essayband „Risiko und Idiotie“: „Ihre Texte durchkreuzen absichtlich Erwartungshaltungen, sie sind Denkabenteuer: witzig, philosophisch, verstiegen, aber immer anregend“, urteil die Jury.
Das Buchmesse-Blog der FAZ bietet einen guten Rückblick auf die Ereignisse der vergangenen Woche, die Deutsche Welle einen Überblick über die wichtigsten deutschsprachigen Autoren/innen und die NZZ einen vielschichtigen Beitrag zum Gastland Indonesien.

Im Bereich Social Reading gibt es ein neues Projekt, das der Frage nachgeht, wie das digitale Gespräch über Literatur in Zukunft aussehen kann. Seit dem 14. September 2015 lesen und diskutieren Autoren/innen, Kritiker/innen und Blogger/innen den neuen Roman von Clemens J. Setz„Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ auf einer eigenen Website. Als Autor will Setz aber keinesfalls ständig jemanden dazwischenquatschen lassen: „Ständige Rückmeldungen sind auch toxisch. Autoren müssen einfach mal machen dürfen, im Geheimen“. Kunst sei keine Demokratie (FAZ).

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