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Das Abwaschbecken der Freiheit

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Abbildung: Suhrkamp VerlagAls Favorit für den Deutschen Buchpreis 2014, der heute um 18 Uhr im Kaisersaal des Frankfurter Römers verliehen wird, gilt Lutz Seiler mit seinem Romanerstling „Kruso“ (siehe Deutschlandradio Kultur-Meldung). Alexander Cammann von der ZEIT spricht von einem „überragenden Roman“, für Steffen Richter vom Tagesspiegel ist es gerade das Verstörende, das Seilers Roman zu großer Literatur macht, und Helmut Böttiger feiert auf Deutschlandradio Kultur ein „grandioses Buch, das weit mehr ist als bloß der Roman dieses Jahres“. Seilers Robinsonade auf Hiddensee steht auf vielen Bestseller- und Bestenlisten und erhielt bereits den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis („Ein atemberaubender Weltentwurf, eine moderne Legende und ein Sprachereignis“ ) sowie den Uwe-Johnson-Preis („Lutz Seiler hält, sämtliche Register des erinnernden Erzählens beherrschend trotz der Schiffbrüchigen, die sich auf der Ostsee-Insel versammeln, an einer Utopie fest: der Freiheit“).

Zu DDR-Zeiten war die Ostsee-Insel Hiddensee Ziel vieler Aussteiger und Sinnsucher. Für einige war die Insel auch der erste Schritt zur „Republikflucht“: „Wer hier ist, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten“, heißt es in dem Roman. Seilers Geschichte spielt im Sommer und Herbst 1989. Edgar Bendler, kurz Ed, reist von Halle nach Hiddensee. Er flieht vor einem Trauma, dem Verlust seiner verunglückten Freundin G. Zunächst irrt Ed über die Insel und kann keine Unterkunft finden, bis er schließlich als Tellerwäscher in der Gaststätte „Zum Klausner“ unterkommt. Dort lernt er den rätselhaften, aber charismatischen Alexander Krusowitsch kennen, den alle nur Kruso nennen. Er ist der Zeremonienmeister der mysteriösen Inselrituale. Ed ist fasziniert von ihm und freundet sich mit ihm an. Seiler schildert das Insel-Dasein all der „Schiffsbrüchigen“ ausführlich. Das Restaurant „Zum Klausner“ ist wie die anderen Insellokale ein Ort für die Gestrandeten der DDR-Gesellschaft, die auf der Suche nach ein wenig (oder auch ein bisschen mehr) Freiheit sind und ein neues, anderes Leben suchen: „Gesund und befreit von der Vergangenheit, wie wir alle hier oben“. Der sommerliche Gastronomiebetrieb wird als aufreibende Plackerei beschrieben, ist aber zugleich Halt gebender, wenn auch leicht wahnwitziger Zufluchtsort: „Mit Hilfe eines speziellen Irrsinns, einer Essenz aus Gastronomie und Poesie, hielten sie ihre Arche über Wasser“. Am Rande der Freiheit finden auch regelrechte Orgien mit freiem Sex und wilden Partys statt: „ein einziges Chaos aus verschiedenen Darbietungen, Getränken und nervösem Herumgehüpfe“. Unter den Esskaas (für SK = Saisonkräfte), die an diesen Partys teilnehmen, warten einige auf die Bewilligung ihres Ausreiseantrags, sie sind „tief, vielleicht schon zu tief in den Zustand des Wartens [versunken], wobei Ed nicht selten den Eindruck gewann, dass sie das Warten selbst vergessen hatten, als ob ihr Leben ohnehin längst außerhalb läge, nicht nur außerhalb des Landes, sondern auch außerhalb der Zeit“. Seiler erzählt von Hiddensee als Ort einer Utopie und stellt Bezüge nicht nur zu Thomas Morus' Insel Utopia, sondern zu Rousseaus Naturzustand her: „Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken“.
Heute Abend werden wir wissen, ob die Jury des Deutschen Buchpreises den Presseeinschätzungen folgt und Seilers utopischen Roman den Preis zuspricht oder eine Trotzreaktion zeigt.

Nachtrag vom 7.10.2014: Nun hat er es also geschafft: Seiler gewann mit „Kruso“ den Deutschen Buchpreis 2014. Alle hatten es erwartet und (fast) alle sind zufrieden mit der Wahl, die Frankfurter Rundschau findet es „prima“, für den Spiegel ist es „der literarisch überzeugendste Gewinnertitel seit Uwe Tellkamps "Turm" im Jahr 2008“. Aber es gibt natürlich auch Bedenkenträger: Die SZ gibt zu bedenken, dass die Jury spätestens mit der „Shortlist den Akzent ganz auf das Motiv "Deutschland befragt sich selbst" gesetzt hatte“, insbesondere Autoren mit Migrationshintergrund wie Sherko Fatah mit seinem Irak-Roman „Der letzte Ort“ oder Feridun Zaimoglus „Isabel“ fehlten. Auch die taz kritisiert die Shortlist, sodass „man mit einer Shortlist konfrontiert [war], auf der am Schluss nur einer gewinnen konnte“; hier werden Nino Haratischwili („Das achte Leben“), Michael Kleeberg („Vaterjahre“) oder Esther Kinsky („Am Fluss“) vermisst. Alleine die FAZ stellt sogar den Gewinner in Frage: Seilers Roman weise Schwächen in der Konzeption auf und sei sprachlich überladen.

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